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20. Juni 2013 / 21:51 Uhr

Erdogan: Der “Supertürke”, der gar keiner ist

Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan beschimpft friedliche Demonstranten als “Terroristen” und “Gesindel”. Seine brutalen Polizeieinsätze kosteten bereits Menschenleben und jetzt erwägt er sogar, das Militär einzusetzen. Sein wahres Gesicht zeigte er immer schon, aber erstmals können Brüssel und Washington nicht mehr umhin, es auch wahrzunehmen.

Dass Erdogan ein Narziss ist, der auf jede leise Kritik ungezügelt cholerisch reagiert, wird von niemandem bestritten. Aber dieser für Machtpolitiker seines Schlages nicht untypische Wesenszug reicht bei weitem nicht aus, um ihn und sein derzeitiges Verhalten zu beschreiben.

Erdogan ist kein ethnischer Türke

Ein wichtiger Aspekt ist Erdogans Herkunft. Nicht nur das Osmanische Reich, auch das Staatsgebiet der heutigen Türkei war vor 100 Jahren noch ein ethnischer Fleckerlteppich. Damals hatte es 10 Millionen Einwohner (heute 75 Millionen). Neben Millionen Kurden gab es noch ca. 2 Millionen Griechen, ca. 1,5 Millionen Armenier und in sechsstelliger Zahl die urchristlichen Assyrer. Über ganz Anatolien verstreut lebten (und leben) Völkerschaften wie die Turkmenen und die Tscherkessen (ein kaukasisches Volk, dessen in Europa bekanntester Vertreter der Spitzenfunktionär der BRD-Grünen Cem Özdemir ist).

Als sich 1923 Kemal Atatürk durchgesetzt hatte, blieb kein Stein auf dem anderen. Er schaffte Sultanat (osmanisches Kaisertum) und Kalifat (islamisches Papsttum) ab und rief die Türkische Republik aus. Außenpolitisch setzte er auf eine völlige Hinwendung zum Westen. Er ersetzte die Scharia durch das Bürgerliche Gesetzbuch der Schweiz, die arabische durch die lateinische Schrift und verlegte die Feiertagsruhe von Freitag auf Sonntag. Innenpolitisch hatte in dem von ihm autoritär geführten internationalen Unikum einer Militärrepublik fortan jeder Bürger auch ein ethnischer Türke zu sein. Sogar das zu 65 % aus arabischem und persischem Wortschatz bestehende osmanische Türkisch wurde einer “Reinigung” unterzogen. Als Atatürk für seine Bürger 1934 Familiennamen einführte, waren natürlich nur türkische erlaubt. Atatürks Anhänger, die sog. Kemalisten, wachten über dessen Tod 1938 hinaus mittels Armee und Justiz über Laizismus (Trennung von Religion und Staat) und (türkischen) Nationalismus.

Spricht man mit Durchschnittstürken, so tut sich zumeist ein Nationalismus auf, der bei uns seit 1945 nicht mehr akzeptiert wird. Als besonders nationalistisch gelten die Anwohner der türkischen Schwarzmeerküste. Das liegt daran, dass es sich meistens um Türken handelt, deren Vorfahren zwangsassimiliert und zwangsislamisiert wurden und besonders türkische Türken sein wollen. Im östlichen Abschnitt der türkischen Schwarzmeerküste haben sich die Lasen, ein kaukasisches, mit den Georgiern verwandtes Völkchen erhalten können. Um ihren Hauptort Rize herum regnet es bis auf Juli und August das ganze Jahr, sodass sich hier das Hauptanbaugebiet des türkischen Quasi-Grundnahrungsmittels Tee befindet. Dass die Lasen nicht brutal türkisiert wurden, verdanken sie einem zweifelhaften Vorteil: Sie werden kaum ernstgenommen und haben in der Türkei jene Rolle inne wie in Österreich die Burgenländer und in Deutschland die Ostfriesen.

Und damit sind wir bei Erdogan. Er wurde 1954 in Istanbuls Stadtteil Kasimpaşa geboren. Er wuchs dort auf und in Rize, dem Geburtsort seiner Eltern. Erdogan ist kein Türke, sondern ein Lase, der das kompensieren möchte. Als wäre das nicht genug, wuchs er in einem islamistischen Umfeld auf und besuchte ein religiös orientiertes Gymnasium in Kasimpaşa. Trotzdem wäre Erdogan der Politik erspart geblieben. Als glühender Anhänger von Fenerbahçe (die einzige Gemeinsamkeit mit Kemal Atatürk) wäre er gerne Fußballstar geworden und hätte angeblich auch das Talent gehabt. Aber dem frommen Vater waren die kurzen Hosen der Spieler zu unsittlich und so stieg der Sohnemann mit 16 Jahren auf Seiten der Islamisten unter Necmettin Erbakan in die Politik ein.

Die Islamisten erkannten, welch politisches Potenzial die kemalistischen Eliten in den riesigen Armenvierteln, den “Gecekondu”, brachliegen ließen und erlebten einen kometenhaften Aufstieg. 1994 wurde Erdogan überraschend Oberbürgermeister von Istanbul. Als er 1998 den Dichter Ziya Gökalp zitierte (“Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.”) wanderte er für 15 Monate ins Gefängnis und wurde für fünf Jahre aus der Politik ausgeschlossen. Sein Aufstieg war aber nicht mehr aufzuhalten. 2002 erreichte seine Partei ein Drittel der Stimmen und weil die meisten kemalistischen Parteien knapp an der von den Kemalisten eingeführten 10-%-Hürde scheiterten, fast zwei Drittel der Mandate. 2003 konnte Erdogan das Amt des Ministerpräsidenten von seiner rechten Hand Abdullah Gül (jetzt Staatspräsident) übernehmen. Im Westen wird er zunehmend als “moderat” und “Wirtschaftsreformer” hofiert. Und es ist dieses Wieder-wer-in-der-Welt-Sein, das ihm mittlerweile die Hälfte der türkischen Wählerstimmen zutreibt (und bei den Auslandstürken noch viel mehr). Der wirtschaftliche Aufschwung kann es nicht sein, denn den gibt es nicht wirklich. Wachstumsraten von 6-8 % sind für ein Land auf solch niedrigem Entwicklungsniveau kein Kunststück. Und man muss auch schauen, wie das Wachstum erreicht wird: Durch Staudammprojekte, die Natur- und Kulturschätze vernichten, durch Plattenbauten in Elendsvierteln und neuerdings durch weitere Kasernen der Marke “Kale” (“Burg”) seit dem freiwilligen Abzug der PKK. Wer in der Türkei mit Einheimischen spricht, erfährt, dass bereits Beamte abends zusätzlich Taxi fahren und sogar Islamisten ihre Frauen arbeiten schicken müssen. Trotzdem liegt die Erwerbsquote bei nur 51 % und die Arbeitslosigkeit bei 9 %. Das bescheiden ansteigende Pro-Kopf-Einkommen der Menschen nützt nichts, wenn Diesel ? 1,76 und Superbenzin gar ? 2,01 (!) pro Liter kostet und außerhalb der Großstädte für leere Straßen sorgt.

Mythos “Wirtschaftswunder”

In Wien würden 60-80 % der Türken Erdogan wählen. Ihnen gefällt meistens gar nicht die schrittweise Islamisierung (Aufhebung des Kopftuchverbots in Schulen und Ämtern, Trennung der Geschlechter, Alkoholeinschränkung, Kussverbot in Öffentlichkeit), sondern sein selbstbewusstes Auftreten, wenn er sich als Vertreter aller Türken und aller Muslime in der Welt sieht. Allerorts in Wien wird von ihm geschwärmt. In die “aufblühende” Türkei geht aber klarerweise niemand zurück, selbst jene nicht, die damit “drohen”, weil man hier nur diskriminiert werde und unten alles viel besser sei.

Erdogan als anatolischer Assad

Bislang agierte Erdogan nach dem Motto “Frechheit siegt”. Er machte sich über die schlechte Wirtschaftslage in Europa lustig, obwohl die Türkei jedes Jahr von der EU hunderte Millionen Euro Heranführungshilfe erhält und nicht umgekehrt. Er lässt seinen Aggressionen gegen den nicht türkisch besetzten Teil Zyperns freien Lauf und leugnet wütend den Armenier-Genozid. Und er schleust nicht nur Dschihadisten in Syrien ein, er wirft seinem Kollegen Assad im Mai 2013 auch vor, verbotener Weise chemische Waffen zu verwenden, obwohl er das selbst im Oktober 2011 gegen die eigenen Bürger im kurdischen Landesteil tat. Der Westen ließ ihn gewähren, sah weg, deutete um. Das geht nun nicht mehr. Das von Tränengas verätzte Gesicht der bundesdeutschen Grünen-Chefin Claudia Roth hat Symbolcharakter.

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